Über die eigene Lesebiografie reflektieren - Sechs Fragen

Freitag, 10. April 2020

Ich habe in meinem ersten Semester an der Uni eine Aufgabe erfüllen müssen, die bei den anderen Studierenden, die diese Vorlesung besuchten, größtenteils Unmut hervorrief. "Schreibt eure eigene Lesebiografie!" Es war nachvollziehbar, dass viele meiner Kommilitonen in dieser Aufgabe keinen Sinn erkennen konnten, da die meisten von ihnen kaum lasen. Ich dagegen fand die Idee toll. Und je länger ich über meinen Kontakt mit Büchern nachdachte und mein Leseverhalten reflektierte, desto mehr konnte ich erkennen, dass mein Bezug zum Lesen stark mit meiner Sozialisation, meiner Familie und dem Verlauf meines weiteren Lebens verknüpft ist.

Weil ich sehr neugierig bin, wie eure Lesebiografie aussieht, habe ich mir ein paar Fragen überlegt, die ihr gern in euren eigenen Blog kopieren könnt, um sie ebenfalls zu beantworten! Ich würde mich sehr darüber freuen. :-)
Man kann viele interessante Schlüsse über die eigene Kindheit ziehen und meiner Meinung nach macht das dieses diffuse Konstrukt "Leseförderung" ein bisschen transparenter und leichter zu verstehen: Was ist nötig, um einen Menschen zum Lesen zu bringen? Und da viele von uns nun (mehr oder weniger) zu Hause gefangen sind, ist es doch genau die richtige Zeit, um mal die eigene Vergangenheit zu reflektieren. Ich denke, es ist in den meisten Fällen die bessere Alternative zum minutiösen Verfolgen der Tagesnachrichten. ;-)


1. Was ist deine früheste Erfahrung mit Büchern, an die du dich erinnern kannst?
Ich kann keine meiner Erinnerungen spezifisch als "die früheste" deklarieren, denn sie sind alle in einer Art verschwommen, dass es ziemlich früh gewesen sein muss. Ich schätze, sie sind ungefähr in mein drittes bis viertes Lebensjahr einzuordnen. Meiner Einschätzung nach waren es sicher die Pixie-Bücher, von denen ich nie genug bekommen konnte und oft am Wochenende eins von meinem Papa geschenkt bekam.
 2. Wurde dir früher vorgelesen?
Wir besaßen damals solche lustigen Pop-Up-Bücher mit Märchengeschichten drin, die ich immer selbst durchblätterte und mein absolutes Lieblingsbuch, welches bis heute wohl behütet in meinem Regal steht und welches ich immer zur Hand nehme, wenn ich das Gefühl habe, ein kleines bisschen der Geborgenheit meiner Kindheit spüren zu wollen. Dieses Buch trägt den wundervollen Namen "Schlaf gut, kleiner Bär" und ist von Quint Buchholz geschrieben und illustriert worden. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter mir dieses Buch abends vorlas, aber dass auch andere Geschichten, wie zum Beispiel Peterchens Mondfahrt, Die kleine Hexe oder Grimms Märchen den Weg in mein Bett fanden und ich ganz besonders auf 5-Minuten-Gute-Nacht-Geschichten abgefahren bin. :-)

3.  Wie hast du in deiner Kindheit den Umgang mit Büchern bei deinen Verwandten erlebt?
Ich habe das Glück, in einer Familie aufzuwachsen, die Bücher sehr schätzt. Sowohl meine Eltern, als auch Großeltern haben schon immer gern und viel gelesen und viele Bücher besessen. Überall in unserem Haus stehen Bücherregale, es wurde sich oft über gelesene Bücher ausgetauscht und zu Weihnachten und Geburtstagen schenkten sich die Erwachsenen... auch Bücher. 
4. Inwiefern haben dich deine Eltern damals motiviert, zu lesen?
Zum einen entstand die Motivation in der Form, dass ich nicht mehr darauf angewiesen sein wollte, dass mir jemand die Geschichten vorliest. Denn meine Eltern hatten natürlich nicht grenzenlos Zeit dafür, mir die gleichen Seiten immer und immer wieder vorzulesen. Zum anderen schenkten sie mir zu Beginn meines Lesenlernens in der Schule genau die richtigen Bücher zu Themen, die mich interessierten: Pferde und Feen. :D Diese Bücher konnte ich nie entsorgen oder weiterverschenken und ich hoffe, dass ich sie später an meine eigenen Kinder weitergeben kann.  Ein großer Fortschritt in meiner Lesekarriere war dann der Tag, an dem mich meine Mutter in unserer örtlichen Bibliothek anmeldete. Da eröffnete sich mir ein ganz neues Universum an Möglichkeiten, mich quer durch die Kinderbuchangebote zu lesen und was soll ich sagen...ich nutzte es in dem Maße aus, dass ich mir zeitweise 10 Bücher auf einmal auslieh, weil ich zu Hause kaum noch etwas anderes tat, als zu lesen.
5.  Gab es Momente in deiner Lesekarriere, die du aus dem heutigen Standpunkt heraus als besonders prägend wahrnimmst?
Ich sehe vier Stationen in meinem bisherigen Leben, die mein Leseverhalten maßgeblich
gelenkt haben. 1. Der Zeitpunkt, als ich endlich selbstständig lesen konnte und die Anstrengungen des Lesenlernens überwunden hatte (zum Ende der ersten Klasse). 2. die oben erwähnte Anmeldung in der Bibliothek und die damit verbundene Möglichkeit, selbstständig für Lesestoff zu sorgen. 3. eine Lesenacht in der Grundschule, in der ich eine große Verbundenheit zu den anderen lesenden Kindern gespürt habe. 4. Schlussendlich gab es irgendwann bei mir einen Moment, an dem ich anfing, über meinen Tellerrand hinauszuschauen. An dem ich von meinem bis dahin sehr exzessiven Lesen von Kinderkrimis (Die Drei ???) und Pferdegeschichten abrückte und die Vielfältigkeit der Literatur das erste Mal bewusst wahrnahm und mich auch dafür zu interessieren begann. Ich schätze, an diesem Punkt befinde ich mich in einer gewissen Weise immer noch.

6. Haben sich deine Leseinteressen verändert? Wenn ja, wie?
Früher habe ich viele Romane gelesen, die leicht und eingängig geschrieben waren. Keine Bücher, über die man im Anschluss ausgiebig nachdenken musste, sondern welche, die zum "abschalten" geeignet waren. Genau aus dem gleichen Grund habe ich eine Weile nur noch auf fanfiktion.de und Wattpad herumgestöbert - weil ich dort Geschichten finden konnte, die andere Menschen in meinem Alter geschrieben hatten und bei denen ich keine tiefsinnigen und schwer zu verarbeitenden Themen erwarten musste. Auch eine ziemlich intensive Krimi- und Thriller-Phase hatte ich irgendwann in dieser Zeit. Mit dem Verlauf der Pubertät (mit 16/17) fing ich dann aber an, einen höheren Anspruch an mich selbst zu stellen. Gut, vielleicht auch, weil meine Mutter mich dazu drängte, niveauvollere Bücher zu lesen. :'D Aber heute bin ich ihr dankbar. Vor allem, weil ich nun merke, dass tatsächlich viele Werke existieren (egal, ob Selfpublishing oder Verlag), die sowohl sprachlich, als auch inhaltlich ziemlich unterirdisch sind. Und ich merke, dass ich mittlerweile selbst dem Young/ New Adult- Genre entwachse und mich nach und nach ernsteren Themen widme.
 Ich habe meine Entwicklung immer als selbstverständlich wahrgenommen und war davon ausgegangen, dass die meisten in meinem Alter die selben Erfahrungen gemacht hatten.  Doch in der Vorlesung habe ich gemerkt: Das stimmt nicht. Es ist nicht selbstverständlich, dass einem Kind vorgelesen wird. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Eltern ihr Kind in der Bibliothek anmelden, geschweige denn dass es ein so großes Interesse an Büchern entwickelt, um dieses Angebot nutzen zu wollen.
Kinder prägt es, in welcher Beziehung die Familie zu bestimmten Dingen steht - wenn sie das Lesen als ein notwendiges Übel wahrnehmen, weil die Eltern nur im beruflichen Kontext Texte lesen, wird es für sie schwer werden, eine positive Beziehung zu Büchern aufzubauen. Und wenn in einem Haushalt gar nicht gelesen wird - nun ja. Wieso sollte man die Anstrengung aufwenden, flüssig lesen zu lernen, wenn man auch ganz gut ohne zurecht kommt? Wenn man stattdessen auch fernsehen oder "zocken" kann?

Anfangs habe ich es als seltsam empfunden, wenn jemand erst in seiner Jugend oder im Erwachsenenalter das Lesen für sich entdeckt hatte. Doch je länger ich mich mit der Lesesozialisation auseinandersetze, umso dankbarer bin ich für jeden Menschen, der überhaupt mit dem (intrinsisch motivierten) Lesen beginnt. 

Deshalb bin ich sehr gespannt auf eure eigenen Erfahrungen mit dem Lesenlernen! Schickt mir gern die Links zu euren eigenen Beiträgen :-)

6 Kommentare

  1. Liebe Isa,

    dieser Post ist sehr interessant und es gibt in unser beider Lesebiografie einige Parallelen. Pixie-Bücher waren meine ersten Bücher, dazu noch viele Bilderbücher. 3 und 4 war bei mir ähnlich, ich komme aus einer Familie mit Bücherschränken, Bücherregalen und die Anmeldung bei der Bücherei war auch mein Lesedurchbruch. Doch am meisten lese ich, seit ich mich bei Lovelybooks angemeldet habe und dort in Leserunden wieder in die Welt der Literatur eingetaucht bin. Mein Blog ist eigentlich nur eine Folge von allem. *grins


    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende,
    Barbara

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    1. Liebe Barbara,
      ich finde es immer total interessant und schön, wenn man solche Gemeinsamkeiten in der eigenen Biografie feststellen kann. Vor allem mag ich es, festzustellen, dass zum Beispiel unsere Blogs die exakt logische Schlussfolgerung unseres Interesse an Büchern darstellt. Und ich möchte das Lesen auch nicht mehr in meinem Leben missen <3

      Viele liebe Grüße,
      Isa

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  2. Ich bin auch sehr froh, dass ich schon früh ans Lesen gebracht wurde. Meine Mutter liest sehr viel, mein Vater gar nicht, trotzdem haben mir beide früher vorgelesen. Was ich ein bisschen erschreckend finde ist, dass Du Lehramtsstudentin bist und Deine Kommilitonen murren, weil sie so etwas erstellen sollen. Sind das denn nicht jene, die Kinder, außerhalb des Elternhauses, ans Lesen bringen könnten? Oje ...

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    1. Hallo Soleil,

      der gleichen Meinung wie du bin ich auch. Ich finde es erstaunlich und traurig, dass selbst angehende Lehrkräfte nicht mehr den Draht zum Lesen haben, wo doch die Schule die "letzte Instanz" ist, wenn die Lesesozialisation in der Familie bereits gescheitert ist durch nicht-lesende Eltern.
      Umso mehr freut es mich, dass du auch in jungen Jahren genauso viel Kontakt zu Büchern hattest wie ich :) Das ist mittlerweile keine Normalität mehr...

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  3. Ein sehr interessanter Post und tolle Fragen. Meine Eltern haben mir zum Glück auch immer vorgelesen, sodass ich mit Büchern groß geworden bin und auch ziemlich stolz war, als ich sie dann selbst lesen kann. Ich kann mich noch daran erinnern, dass vor allem das Märchen "Die kleine Meerjungfrau" und "Peter Pan" mich als Kind begeistert haben. Die Lesephasen kenne ich aber auch: Zu Grundschulzeiten habe ich mich gerne gegruselt (tue ich noch heute) und viel Gänsehaut und Fear Street gelesen, in der Jugend bin ich dann zu Romanen vor allem von Cecilia Ahern, aber auch humorvolles wie Kerstin Gier übergangen und haben dann auch recht bald meine Liebe für Krimis/Thriller entdeckt. In ein etwas anderes Genre fiel dann Harry Potter - meine Reihe der Kindheit/Jugend die mich stark geprägt hat. Heute habe ich lediglich die Liebesromane hinter mir gelassen, da kann ich nicht mehr ran, das begeistert mich nicht mehr so. Dafür habe ich historische Biografien für mich entdeckt. Sodass ich mittlerweile letzteres oft lese, aber weiterhin Krimi/Thriller und Fantasy treu geblieben bin.

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    1. Liebe Nicole,
      danke für deinen interessanten Kommentar!
      Ich finde es super spannend, auch die Lesebiografien von anderen Lesern kennenzulernen und wir unterscheiden uns ja gar nicht so sehr - außer, dass ich immer noch gern Liebesromane lese ;)
      Ich wünsche dir noch viel Spaß beim Lesen,
      Isa

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