Freunde,
ich bin so glücklich über diesen Post, denn seit mehr als einem Jahr will ich diesen Blog hier irgendwie "offener" machen und euch nicht nur meine eigenen Worte vorsetzen. In diesem Hinblick habe ich mich bereits mit Cornelius Pollmer unterhalten und es wirklich erfrischend gefunden! Über Julya Rabinowichs Jugendroman "Dazwischen: Ich" habe ich damals eine Hausarbeit für die Uni geschrieben und das hat mich so fasziniert. Seitdem wollte ich sie gern interviewen :-) Im Dezember 2020 bin ich über meinen Schatten gesprungen und habe nachgefragt und was soll ich sagen - nun kann ich euch ein interessantes Gespräch präsentieren, über das ich mich sehr freue und ich hoffe, ihr findet es ähnlich aufschlussreich!
Zur Person: Julya Rabinowich ist eine österreichische Schriftstellerin, Kolumnistin, Dramatikerin, Dolmetscherin und Malerin und arbeitete viele Jahre als Simultandolmetscherin in Psychotherapien mit Geflüchteten im Zentrum für Folter- und Kriegsüberlebende. Ihr Debütroman Spaltkopf (2008, edition exil) erhielt zahlreiche Preise. 2016 erschien ihr Jugendroman "Dazwischen:Ich", welcher u.a. mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde. (Quelle: Julya Rabinowich)
Liebe Julya Rabinowich,
erst einmal möchte ich mich herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview nehmen und mir und meinen Leser*innen einen kleinen Einblick in Ihre Werke und die Intentionen dahinter gewähren! Sie haben 2016 den Jugendroman „Dazwischen: Ich“ (meine Rezension) veröffentlicht: eine Tagebuch-Erzählung eines geflüchteten Mädchens, ihrer Familie und dem Versuch, Fuß zu fassen in Deutschland. Was hat Sie dazu bewogen, sich diesem Thema zu widmen?
Dazwischen:Ich ist vor allem ein
Antikriegsbuch. Wir vergessen, wie dünn das Eis der Zivilisation ist, unsere
Zeitzeugen des Holocaust sterben, bald wird niemand mehr da sein, um uns daran
zu erinnern, was Krieg anrichtet, welcher Schrecken Krieg bedeutet. Abgesehen
davon war es leichter, den Jugendlichen jemand Gleichaltrigen vorzustellen,
jemanden, der ist wie sie selbst- und dennoch Krieg und Vertreibung erlebt hat.
Wichtig war mir auch das gegenseitige Verständnis- von denen, die geflohen
sind, und von denen, die nie Flucht erlebten.
In Ihrer früheren Arbeit als Dolmetscherin für Hemayat und
den Diakonie-Flüchtlingsdienst haben Sie wahrscheinlich viele Kinder und
Jugendliche mit schweren Schicksalen kennengelernt. Können Sie uns verraten, ob
Madina [Anm. für Leser: die Protagonistin aus „Dazwischen: Ich“] eine von ihnen
ist? Oder ist sie rein fiktiv?
Madina ist selbstverständlich fiktiv, ich
würde nie eine unserer Patientinnen und Klientinnen der Öffentlichkeit
vorsetzen. In Madina fließen aber viele Geschichten zusammen, die ich über die
Jahre miterleben konnte, ihr Schicksal wird von vielen Mädchen geteilt. Diese
Stärke, dieser Mut, diese Klugheit haben mich immer wieder umgeworfen. Diese
jungen Frauen hatten so viel Schreckliches erlebt- und waren dennoch so
beeindruckend.
Die Geflüchteten in Madinas Geschichte erleben viel
impliziten Rassismus (zum Beispiel das Verhalten der „Chefin“ gegenüber den
Pensionsbewohnern), aber im Vergleich zu anderen Romanen kommt relativ wenig expliziter
Rassismus vor. War es eine bewusste Entscheidung, den Fokus nicht auf die
Gewalt und den Hass zu legen, der Geflüchteten entgegengebracht wird?
Dafür bietet die Fortsetzung von Dazwischen:
Ich sehr, sehr viel Raum. Ich habe es eigentlich bewusst auf den zweiten Teil
gelegt. Die eine Seite: das Ankommen. Die andere: das Hierbleiben. Vieles
erkennt man erst, wenn man sich im zweiteren einfindet.
Madina hat in „Dazwischen: Ich“ sogar einen mehr oder
weniger normalen Alltag: Schulbesuche, Freundinnen treffen. Natürlich ist ihr
Leben in der Pension, in der sie mit ihrer Familie und vielen anderen
Geflüchteten auf engstem Raum lebt, alles andere als normal für uns.
Würde der Roman in der COVID-19-Pandemie spielen, sähen Madinas
Tagebucheinträge sicher ganz anders aus. Können Sie einschätzen, wie sich die
momentane Situation auf geflüchtete Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen
auswirkt?
Ich fürchte, das verschlimmert die Lage
natürlich zusätzlich und retraumatisiert. Denn nun sind auch die Helfer und
Helferinnen in einer traumatisierenden Situation, nicht nur die Angekommenen.
Die Pandemie erschüttert alle. Zusätzlich stellt die Enge der Unterkünfte ein
großes Risiko dar.
Die Bezeichnung „verlorene Generation“ wird in den Medien
aktuell häufig für die Kinder und Jugendlichen verwendet, die sich 2020 in
Umbruchssituationen befanden und durch die Pandemie, den Lockdown und die
überwiegende Isolation im Homeschooling und Home-Office nicht von einem
Lebensabschnitt in den nächsten wechseln konnten. UNICEF warnt davor, die
Zukunft einer ganzen Generation sei in Gefahr. Wie denken Sie darüber?
Die Situation ist dystopisch, belastend,
verschreckend. Das schlimmste ist, dass man auf Sicht fährt und nicht wirklich
weiß, wann das Leben, das wir davor kannten, wieder möglich sein wird. Ein
solches Jahr ist für Kinder und Jugendliche weitaus länger als für Erwachsene. Aber-
und gerade weil ich so viele Jugendliche und Kinder kennengelernt habe, die
Kriegsverbrechen, Verletzungen, Verlust der Verwandten und Freunde durch Tod
oder Flucht verarbeitet haben- glaube ich auch an die Resilienz in dieser
Generation. Was ich allerdings auch glaube ist, dass eigentlich flächendeckend
Therapie und Unterstützung notwendig sind, um diese Kräfte zu stärken und überhaupt
erst Verarbeitung zu ermöglichen. Das gilt allerdings in gewisser Weise auch
für Erwachsene. Das, was wir alle gerade erleben, ist eine Ausnahmesituation
und zutiefst verstörend. Auch die Tatsache, dass sich soziale Gräben vertiefen,
trägt nicht gerade zu einer Entspannung der Situation bei. Der
gesellschaftliche Zusammenhalt wird auf eine harte Probe gestellt. Wir müssen
lernen, solidarischer miteinander zu sein. Die Ich-AG ist kein Weg aus der
Krise.
Kann ich als Einzelperson auch etwas ausrichten, um diese
potenziell verlorenen Kinder und Jugendliche irgendwie aufzufangen? In
Deutschland wurde im Frühjahr beispielsweise die Online-Plattform
„Corona-School e. V.“ gestartet, eine Plattform zum Suchen und Anbieten von
virtueller Hausaufgabenhilfe – reichen solche Projekte, um Bedürftigen aus der
Krise zu helfen oder benötigt es dazu größere Initiativen? Gerade im Hinblick
auf z.B. die Situation in vielen Unterkünften für Geflüchtete: kein Internet,
keine Möglichkeit zum Abstandhalten, keine sozialen Kontakte außerhalb der
Unterkunft, die ja für das Ankommen in einem neuen Land essenziell sind, wie
auch Romanfigur Madina mit ihrer besten Freundin Laura erlebt.
Es gibt so unendlich viel zu tun- von
kleinsten Schrittchen bis hin zu großen Würfen. Jeder gespendete Computer, jede
Unterstützung, jede Lernhilfe öffnet neue Chancen. Es kann aber nicht sein,
dass diese Bedürfnisse nur auf zivilgesellschaftliches Engagement stoßen oder
gar abgewälzt werden- der Staat ist in der Pflicht, hier Hilfestellungen zu
bieten.
Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf die
Fluchterfahrung, das Ankommen und Ihre eigene „Entwurzelung“, wie Sie auf Ihrer
Homepage schreiben, zu sprechen kommen. Wenn Sie einer Madina oder einem Rami
[Anm. für Leser.: Madinas Bruder] gegenüberstehen würden, welchen Rat würden
Sie ihm oder ihr mit auf den Weg geben? Was würden Sie Ihrem eigenen früheren Ich
sagen?
Das erste: lernt die Sprache. Sprache ist
Macht. Sprache ist Zukunft. Das zweite: findet Freunde. Man entwickelt sich
ganz anders in der Gemeinsamkeit. Zweifel und schwache Augenblicke sind normal.
Sie sind mit Freunden weit besser zu verkraften. Drittens: wehrt euch, wenn man
euch schlecht behandelt. Gebt die Hilfe weiter, die ihr erlebt habt.
Viertens: Ihr liebt eure Eltern, und sie
haben Angst, euch zu verlieren. Ihr dürft euch aber im Laufe eurer Entwicklung
auch ein bisschen von ihnen entfernen: Veränderung ist kein Verrat! Glaubt an
euch, auch wenn manchmal bösartige Menschen euch das Gegenteil verkaufen
wollen. Ihr habt eine Zukunft. Holt sie euch.
Und was können wir tun, um all den Madinas und Ramis das
Ankommen zu erleichtern?
Diese Menschen als das wahrnehmen, was sie
sind: Menschen, die Unterstützung brauchen. Menschen, die sich erst
zurechtfinden müssen. Menschen, für die dieselben Rechte und Gesetze gelten,
wie für andere Mitbürger und Mitbürgerinnen auch. Jeder kann in eine solche
Fluchtsituation kommen. Frieden und Sicherheit sind ein Geschenk, keine
Garantie.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch!
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