[Interview] Julya Rabinowich: "Frieden und Sicherheit sind ein Geschenk, keine Garantie."

Freitag, 26. Februar 2021

Julya Rabinowich; Fotograf: Michael Mazohl
Freunde, 
ich bin so glücklich über diesen Post, denn seit mehr als einem Jahr will ich diesen Blog hier irgendwie "offener" machen und euch nicht nur meine eigenen Worte vorsetzen. In diesem Hinblick habe ich mich bereits mit Cornelius Pollmer unterhalten und es wirklich erfrischend gefunden! Über Julya Rabinowichs Jugendroman "Dazwischen: Ich" habe ich damals eine Hausarbeit für die Uni geschrieben und das hat mich so fasziniert. Seitdem wollte ich sie gern interviewen :-) Im Dezember 2020 bin ich über meinen Schatten gesprungen und habe nachgefragt und was soll ich sagen - nun kann ich euch ein interessantes Gespräch präsentieren, über das ich mich sehr freue und ich hoffe, ihr findet es ähnlich aufschlussreich! 

Zur Person: Julya Rabinowich ist eine österreichische Schriftstellerin, Kolumnistin, Dramatikerin, Dolmetscherin und Malerin und arbeitete viele Jahre als Simultandolmetscherin in Psychotherapien mit Geflüchteten im Zentrum für Folter- und Kriegsüberlebende. Ihr Debütroman Spaltkopf (2008, edition exil) erhielt zahlreiche Preise. 2016 erschien ihr Jugendroman "Dazwischen:Ich", welcher u.a. mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde. (Quelle: Julya Rabinowich)

Liebe Julya Rabinowich,

erst einmal möchte ich mich herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview nehmen und mir und meinen Leser*innen einen kleinen Einblick in Ihre Werke und die Intentionen dahinter gewähren! Sie haben 2016 den Jugendroman „Dazwischen: Ich“ (meine Rezension) veröffentlicht: eine Tagebuch-Erzählung eines geflüchteten Mädchens, ihrer Familie und dem Versuch, Fuß zu fassen in Deutschland. Was hat Sie dazu bewogen, sich diesem Thema zu widmen?

Dazwischen:Ich ist vor allem ein Antikriegsbuch. Wir vergessen, wie dünn das Eis der Zivilisation ist, unsere Zeitzeugen des Holocaust sterben, bald wird niemand mehr da sein, um uns daran zu erinnern, was Krieg anrichtet, welcher Schrecken Krieg bedeutet. Abgesehen davon war es leichter, den Jugendlichen jemand Gleichaltrigen vorzustellen, jemanden, der ist wie sie selbst- und dennoch Krieg und Vertreibung erlebt hat. Wichtig war mir auch das gegenseitige Verständnis- von denen, die geflohen sind, und von denen, die nie Flucht erlebten.

In Ihrer früheren Arbeit als Dolmetscherin für Hemayat und den Diakonie-Flüchtlingsdienst haben Sie wahrscheinlich viele Kinder und Jugendliche mit schweren Schicksalen kennengelernt. Können Sie uns verraten, ob Madina [Anm. für Leser: die Protagonistin aus „Dazwischen: Ich“] eine von ihnen ist? Oder ist sie rein fiktiv?

Madina ist selbstverständlich fiktiv, ich würde nie eine unserer Patientinnen und Klientinnen der Öffentlichkeit vorsetzen. In Madina fließen aber viele Geschichten zusammen, die ich über die Jahre miterleben konnte, ihr Schicksal wird von vielen Mädchen geteilt. Diese Stärke, dieser Mut, diese Klugheit haben mich immer wieder umgeworfen. Diese jungen Frauen hatten so viel Schreckliches erlebt- und waren dennoch so beeindruckend.

Die Geflüchteten in Madinas Geschichte erleben viel impliziten Rassismus (zum Beispiel das Verhalten der „Chefin“ gegenüber den Pensionsbewohnern), aber im Vergleich zu anderen Romanen kommt relativ wenig expliziter Rassismus vor. War es eine bewusste Entscheidung, den Fokus nicht auf die Gewalt und den Hass zu legen, der Geflüchteten entgegengebracht wird?

Dafür bietet die Fortsetzung von Dazwischen: Ich sehr, sehr viel Raum. Ich habe es eigentlich bewusst auf den zweiten Teil gelegt. Die eine Seite: das Ankommen. Die andere: das Hierbleiben. Vieles erkennt man erst, wenn man sich im zweiteren einfindet.

Madina hat in „Dazwischen: Ich“ sogar einen mehr oder weniger normalen Alltag: Schulbesuche, Freundinnen treffen. Natürlich ist ihr Leben in der Pension, in der sie mit ihrer Familie und vielen anderen Geflüchteten auf engstem Raum lebt, alles andere als normal für uns. Würde der Roman in der COVID-19-Pandemie spielen, sähen Madinas Tagebucheinträge sicher ganz anders aus. Können Sie einschätzen, wie sich die momentane Situation auf geflüchtete Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen auswirkt?

Ich fürchte, das verschlimmert die Lage natürlich zusätzlich und retraumatisiert. Denn nun sind auch die Helfer und Helferinnen in einer traumatisierenden Situation, nicht nur die Angekommenen. Die Pandemie erschüttert alle. Zusätzlich stellt die Enge der Unterkünfte ein großes Risiko dar.

Die Bezeichnung „verlorene Generation“ wird in den Medien aktuell häufig für die Kinder und Jugendlichen verwendet, die sich 2020 in Umbruchssituationen befanden und durch die Pandemie, den Lockdown und die überwiegende Isolation im Homeschooling und Home-Office nicht von einem Lebensabschnitt in den nächsten wechseln konnten. UNICEF warnt davor, die Zukunft einer ganzen Generation sei in Gefahr. Wie denken Sie darüber?

Die Situation ist dystopisch, belastend, verschreckend. Das schlimmste ist, dass man auf Sicht fährt und nicht wirklich weiß, wann das Leben, das wir davor kannten, wieder möglich sein wird. Ein solches Jahr ist für Kinder und Jugendliche weitaus länger als für Erwachsene. Aber- und gerade weil ich so viele Jugendliche und Kinder kennengelernt habe, die Kriegsverbrechen, Verletzungen, Verlust der Verwandten und Freunde durch Tod oder Flucht verarbeitet haben- glaube ich auch an die Resilienz in dieser Generation. Was ich allerdings auch glaube ist, dass eigentlich flächendeckend Therapie und Unterstützung notwendig sind, um diese Kräfte zu stärken und überhaupt erst Verarbeitung zu ermöglichen. Das gilt allerdings in gewisser Weise auch für Erwachsene. Das, was wir alle gerade erleben, ist eine Ausnahmesituation und zutiefst verstörend. Auch die Tatsache, dass sich soziale Gräben vertiefen, trägt nicht gerade zu einer Entspannung der Situation bei. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird auf eine harte Probe gestellt. Wir müssen lernen, solidarischer miteinander zu sein. Die Ich-AG ist kein Weg aus der Krise.

Kann ich als Einzelperson auch etwas ausrichten, um diese potenziell verlorenen Kinder und Jugendliche irgendwie aufzufangen? In Deutschland wurde im Frühjahr beispielsweise die Online-Plattform „Corona-School e. V.“ gestartet, eine Plattform zum Suchen und Anbieten von virtueller Hausaufgabenhilfe – reichen solche Projekte, um Bedürftigen aus der Krise zu helfen oder benötigt es dazu größere Initiativen? Gerade im Hinblick auf z.B. die Situation in vielen Unterkünften für Geflüchtete: kein Internet, keine Möglichkeit zum Abstandhalten, keine sozialen Kontakte außerhalb der Unterkunft, die ja für das Ankommen in einem neuen Land essenziell sind, wie auch Romanfigur Madina mit ihrer besten Freundin Laura erlebt.

Es gibt so unendlich viel zu tun- von kleinsten Schrittchen bis hin zu großen Würfen. Jeder gespendete Computer, jede Unterstützung, jede Lernhilfe öffnet neue Chancen. Es kann aber nicht sein, dass diese Bedürfnisse nur auf zivilgesellschaftliches Engagement stoßen oder gar abgewälzt werden- der Staat ist in der Pflicht, hier Hilfestellungen zu bieten.

Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf die Fluchterfahrung, das Ankommen und Ihre eigene „Entwurzelung“, wie Sie auf Ihrer Homepage schreiben, zu sprechen kommen. Wenn Sie einer Madina oder einem Rami [Anm. für Leser.: Madinas Bruder] gegenüberstehen würden, welchen Rat würden Sie ihm oder ihr mit auf den Weg geben? Was würden Sie Ihrem eigenen früheren Ich sagen?

Das erste: lernt die Sprache. Sprache ist Macht. Sprache ist Zukunft. Das zweite: findet Freunde. Man entwickelt sich ganz anders in der Gemeinsamkeit. Zweifel und schwache Augenblicke sind normal. Sie sind mit Freunden weit besser zu verkraften. Drittens: wehrt euch, wenn man euch schlecht behandelt. Gebt die Hilfe weiter, die ihr erlebt habt. Viertens:  Ihr liebt eure Eltern, und sie haben Angst, euch zu verlieren. Ihr dürft euch aber im Laufe eurer Entwicklung auch ein bisschen von ihnen entfernen: Veränderung ist kein Verrat! Glaubt an euch, auch wenn manchmal bösartige Menschen euch das Gegenteil verkaufen wollen. Ihr habt eine Zukunft. Holt sie euch.

Und was können wir tun, um all den Madinas und Ramis das Ankommen zu erleichtern?

Diese Menschen als das wahrnehmen, was sie sind: Menschen, die Unterstützung brauchen. Menschen, die sich erst zurechtfinden müssen. Menschen, für die dieselben Rechte und Gesetze gelten, wie für andere Mitbürger und Mitbürgerinnen auch. Jeder kann in eine solche Fluchtsituation kommen. Frieden und Sicherheit sind ein Geschenk, keine Garantie.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch!

1 Kommentar

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